„Film ab“ hieß es bereits vor 103 Jahren

Tilsiter Lichtspielhaus ist eine Institution im Friedrichshain

Der Weg zum kleinen Kinosaal mit seinen gerade einmal 80 Sitzmöglichkeiten führt durch eine gemütliche Kneipe. Die große Fensterfront gibt den Blick frei auf die in schummriges Licht der Laternen getauchte Richard-Sorge-Straße. Sie hieß früher einmal Tilsiter Straße und gab dem Kino seinen Namen. Bis zum Morgen laufen hier Filme. Doch nicht nur für seine Mitternachtsvorstellungen ist das Kino bekannt. Schon am Nachmittag läuft der Projektor und bietet den jüngeren Berlinerinnen und Berlinern ein Kinderprogramm. Verantwortlich für die Filmauswahl zeichnet ein Programmchef. „Ansonsten sind wir hier ein Kollektiv von sechs bis zehn Personen, die das Kino betreiben“, erzählt ein jugendlich wirkender Mann hinter der Kneipentheke. Angefangen habe das Kinoprojekt zu Beginn der neunziger Jahre. Damals hätten sie sich als filmbegeisterte Ostberliner zusammengetan und dem 1961 geschlossenen und teilweise als Lagerhalle genutzten Tilsiter wieder neues Leben eingehaucht. Das Kino war einst im Familienbesitz, doch die Angehörigen der damaligen Eigentümer entwickelten keinen Ehrgeiz für einen cineastischen Neuanfang, weshalb es heute auch keine Kontakte mehr gäbe. Ähnlich sieht es bezüglich der anderen Programmkinos in der Stadt aus. Mit ihnen sei man bestenfalls im sporadischen Austausch. „Wir sind vielmehr hier im Kiez engagiert und zum Beispiel beim jährlich stattfindenden Straßenfest einer der zentralen Veranstaltungsorte.“

Der Kiez und insbesondere die Richard-Sorge-Straße haben sich in den letzten Jahren stark verändert. Altbauten wurden saniert und die Mieten gleichzeitig rapide erhöht. Zudem entstanden repräsentative Neubauten, die auf ein solventes Publikum abzielen. „Die Besucher des Kinos sind dagegen diejenigen geblieben, die sich für die Angebote der Programmkinos interessieren. Da hat sich nicht so viel geändert“, betont er. Insofern sei man auch nicht schadenfroh über das Ende des in der Nachbarschaft gelegenen Kosmos-Kinos. Das im Jahr 2005 geschlossene Multiplexkino gehörte einstmals zu den renommiertesten Lichtspielhäusern der DDR. „Dort im Kosmos wurden im Gegensatz zu unserem Programm Blockbuster gezeigt, insofern waren wir nie Konkurrenten.“ Im Tilsiter würden bei Stummfilmabenden Bands aufspielen, kaum bekannte Filmemacher ihre Produktionen vorstellen und auch Zaubershows gezeigt.

Doch wie kann sich das kleine Tilsiter bei dieser Programmvielfalt finanziell über Wasser halten? „Wir basteln hier alles selbst“, bemerkt der Mann hinter der Theke lächelnd, nachdem er noch schnell eine Bestellung aufgenommen hat. Außerdem sei es von Vorteil, dass zum Kino auch eine gut angenommene Kneipe gehöre. Mögliche Probleme sehe er allerdings bezüglich der Umstellung auf digitale Produktionen, so wie es bereits in den USA üblich sei. Eine technische Neuausrüstung wäre sehr teuer und finanziell schwer zu stemmen.

Bleibt die Frage nach einer das Kino betreffenden Legende: Einst soll ein russischer Offizier das Interieur des Tilsiters nach seiner Schließung in den sechziger Jahren in die russische Exklave Kaliningrad gebracht haben. Ausgerechnet in der dortigen Stadt Sowjetsk, dem ehemaligen Tilsit, hätte es dann bis in die neunziger Jahre hinein den Menschen als Kino gedient. Erst auf Initiative des Sohnes des Offiziers sei es wieder nach Berlin gekommen. An der Theke wird wieder gelächelt: „Oh, das ist ein Fake!“ ist die knappe und desillusionierende Antwort. Schade, es wäre eine zu schöne Geschichte gewesen. Doch das sympathische Tilsiter Lichtspielhaus ist auch so schon legendär und wird hoffentlich in den nächsten103 Jahren weitere spannende Geschichten schreiben.

Berlin, den 29. Januar 2011 / Erschienen imStachel Frühjahr 2011 www2.frieke.de/uploads/stachel_a3_2011_02.pdf