Ermordete Juden und empörte Nicht-Juden

Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin provoziert neben Interesse und Nachdenken auch Abscheu und Empörung. Warum?

Der Bus mit Touristen aus Süddeutschland nähert sich dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Als Stadtführer lege ich für einen Moment das Mikrofon zur Seite. Die Gäste sollen das Stelenfeld auf sich wirken lassen. Unvermittelt ruft eine aufgebrachte Stimme: „Der Jude bekommt alles was er will! Er wünscht ein Denkmal neben dem Brandenburger Tor, kein Problem, er bekommt ein Denkmal neben dem Brandenburger Tor!“ Die Entgleisung eines Einzelnen? Kommentare dieser Art sind nicht die Regel, kommen aber erschreckend häufig vor.

„Ach Gott, wie ist das hässlich“, gehört zu den Favoriten. Mit diesem Vorwurf kann legitime Kritik am Denkmalkonzept geäußert, aber auch schlecht getarnter Antisemitismus transportiert werden. Gegen Juden fiel schließlich kein negatives Wort, denn „da muss man heutzutage sowieso aufpassen, was man sagt!“ Folglich wird erst beim anschließenden Gespräch deutlich, welche Sinneshaltung hinter dem Gesagten steckt.

Eine gern gestellte und rhetorisch gemeinte Frage lautet wiederum: „Was das alles gekostet hat?“ Es hat Millionen Menschenleben gekostet, ohne deren Tod das Denkmal überflüssig wäre. Leider erkennen manche Zeitgenossen diesen Zusammenhang nicht. Sie sehen in dem Areal zuvorderst ein finanzielles „Millionengrab“.

Mittlerweile bin ich dazu übergegangen, eindeutig antisemitisch motivierte Kritiker zu fragen, welche alternativen Baumaßnahmen sie ergriffen hätten. Zugegebenermaßen eine provokante Frage, denn natürlich haben sich die wenigsten Meckermäuler hierüber Gedanken gemacht. Ein Grund für Vorschläge wie: „Man hätte besser ein Schwimmbad bauen sollen!“

Warum kommt es zu den vorgetragenen Emotionen, die in dieser Intensität weder Brandenburger Tor noch Berliner Mauer wachrufen? Die wenigsten Kritiker dürften negative Erfahrungen mit Juden gemacht haben, geschweige denn überhaupt Juden kennen. Ist tatsächlich die Politik Israels schuld? „Was die Juden mit den Palästinensern veranstalten, ist meiner Meinung nach auch ein großes Verbrechen!“ Mündige Bürger sollten jedoch klar zwischen der Politik des Staates Israel und deutschen, polnischen oder beispielsweise luxemburgischen Juden unterscheiden können, die in einer Zeit ermordet wurden, als es Israel noch nicht gab. Was hat also das eine mit dem anderen zu tun?

Natürlich schwingt bei dem Gesagten das Gefühl mit, noch immer in der Täterrolle zu stecken, während „Juden ihre Opferrolle kultivieren“ würden. Dabei kann nur derjenige Täter sein, der etwas verbrochen hat. Folglich sind die meisten Kritiker ebenso wenig Täter wie jener sechsjährige Junge, der mir beim Anblick des Stelenfeldes begeistert zurief, dass er in seinem Leben noch nie ein so tolles Labyrinth gesehen habe.

Dennoch nehmen die Bedenkenträger einen imaginären mahnenden Zeigefinger wahr, der ihnen angeblich eine Teilschuld am Holocaust zuweisen möchte. Sie blenden aus, dass die nationalsozialistische Vernichtungspolitik nach wie vor zahlreiche jüdische Lebensläufe bestimmt. Warum können diese Menschen das Stelenfeld nicht als Zeichen der Solidarität mit den Opfern interpretieren?

Persönlich würde ich mir ähnliche Denkmäler auch für andere Hauptstädte wünschen. Wäre es nicht ein Symbol politischer Reife, wenn beispielsweise in Ankara der ermordeten armenischen Zivilisten gedacht würde, oder in Tokio der ermordeten chinesischen Bürger? Die Aufstellung von wünschenswerten Gedenkorten ließe sich weiter ausbauen. Leider gibt es ausschließlich in der Mitte Berlins ein den öffentlichen Raum dominierendes Denkmal, welches an vergangene Verbrechen erinnert und einen aktuellen Diskurs ermöglicht.

Das Geschilderte soll keineswegs schmälern, dass es ausreichend viele Besucher gibt, die ihre Solidarität mit den Opfern von einst bekunden. Ein Mann aus Norddeutschland beschrieb die beeindruckende Wirkung, welche das Denkmal nachts auf ihn gemacht hätte. Ein Mitreisender kämpfte wiederum mit seinen Tränen, als nationalsozialistische Schikanemaßnahmen besprochen wurden.

Selbst die viel gescholtene Jugend zeigt sich in der Tendenz wissbegierig und lässt mehrheitlich schweigend das Denkmal auf sich wirken. Damit würdigt sie den Sinn eines Denkmals, welches zum Erinnern und Nachdenken anregen soll.

Berlin, 10. Februar 2008 / Erschienen im Frankfurter Rundschau blog www.frblog.de/man-hatte-besser-ein-schwimmbad-bauen-sollen/