Armenier skeptisch über Versöhnungsaufruf

Türkische Intellektuelle bitten im Internet die Armenier um Verzeihung für die „Katastrophe“ von 1915. Unter den Armeniern in Berlin wird darüber kontrovers diskutiert – vor allem weil das Wort „Völkermord“ nicht vorkommt

Unter den Armeniern in Berlin wird derzeit heftig über einen Text diskutiert, den türkische Intellektuelle im Internet veröffentlicht haben: „Ich kann es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, dass man der großen Katastrophe, die 1915 den osmanischen Armeniern wiederfuhr, bisher so teilnahmslos gegenüberstand, ja, dass diese gar geleugnet wird. Ich lehne die Ungerechtigkeit ab, teile die Gefühle und das Leid meiner armenischen Mitmenschen und bitte sie um Verzeihung.“

In der Armenischen Gemeinde zu Berlin, unweit des Schloss Charlottenburg, haben sich wie jeden Freitag rund 30 Personen eingefunden, um gemeinsam zu speisen, zu spielen – und zu diskutiert. Hier wird die Kampagne der türkischen Intellektuellen mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Schließlich ist der Völkermord an den Armeniern (siehe Kasten) nach wie vor ein Tabu in der Türkei. Und viele Armenier sagen, dass die Türkei endlich offiziell anerkennen muss, dass es sich bei den Verbrechen von 1915 um Völkermord handelt. „Vielleicht kommt jetzt mit der Kampagne ein Prozess in Gang, der zur Anerkennung als Völkermordes führt“, ist eine mehrfach wiederholte Hoffnung. Doch Skepsis bleibt. Ein Vater, dessen Familie das Essen für die Gemeinde zubereitet hat, sagt: „Die Kampagne freut mich. Doch es ist traurig, wenn ich die armenische Heimat in der Türkei bereise. Dort fragen mich die Menschen oft verblüfft, was ich für eine Sprache spreche. Sie wissen nicht, dass es die Sprache ist, die in der Region einst hauptsächlich gesprochen wurde. Insofern glaube ich nicht so recht an den Erfolg der Kampagne, denn wer die Geschichte nicht kennt, kann sich auch nicht entschuldigen.“

Dass die türkische Gesellschaft ausgesprochen wenig über den Völkermord an den Armeniern weiß, sagt auch Gerayer Koutcharian. Er ist Teilnehmer eines sechsköpfigen Gesprächskreises, den die Armenische Kirchen- und Kulturgemeinde organisiert hat. Ebenfalls in der Nähe des Charlottenburger Schlosses beheimatet, konzentriert sich die Gemeinde mit 120 Beitragszahlern auf kirchliche und schulische Belange. Aber die Kampagne türkischer Intellektueller wird auch hier diskutiert. „In den türkischen Schulen wird der Völkermord verschwiegen. Die meinungsbildenden Medien der Türkei leugnen ihn. Die türkische Justiz verfolgt Menschen, die eine Anerkennung des Völkermordes einfordern“, sagt Koutcharian. In der Türkei würde folglich nur eine kleine Gruppe Intellektueller über den Völkermord Bescheid wissen. Selbst in Berlin verhalte es sich ähnlich. Nur wenige Menschen der türkischen Gemeinde würden die Vokabel „Völkermord“ in den Mund nehmen. Koutcharian kritisiert, auch die Kampagne vermeide das Wort „Völkermord“.

Weniger pessimistisch ist Canik C., der seinen Nachnamen lieber nicht in der Zeitung sehen möchte. „Jetzt beginnt die türkische Gesellschaft endlich, differenziert über die Geschichte ihres Landes nachzudenken. Aber wir dürfen zu Anfang einer Entwicklung nicht gleich alles einklagen“, mahnt er. Sona S. kann diese Sicht nicht teilen. „Im Kampagnentext findet der Völkermord keine Erwähnung. Doch gerade seine Anerkennung ist für uns ein zentraler Punkt.“ Außerdem hätten bisher nur rund 30.000 Menschen die Kampagne unterstützt – von 70 Millionen Einwohnern in der Türkei.

DIE ARMENISCHEN GEMEINDEN IN BERLIN

In Berlin sind zwei armenische Gemeinden beheimatet: die 1923 gegründete Armenische Gemeinde zu Berlin und die 1996 gegründete Armenische Kirchen- und Kulturgemeinde. Sie betreuen gemeinsam 1.500 armenischstämmige Berliner. Die ersten Armenier, die nach Berlin kamen, waren Überlebende des Völkermords, der bis heute das türkisch-armenische Verhältnis belastet. Während des Ersten Weltkriegs, zwischen 1915 und 1917 starben nach unterschiedlichen Quellenangaben zwischen 800.000 und 1,5 Millionen Armenier des Osmanischen Reichs. Die damalige Regierung der sogenannten Jungtürken hatte sich zum Ziel gesetzt, die armenische Bevölkerung mittels Massakern und Hungermärschen zu vernichten.

Die Türkei, als Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs, bestreitet bis heute die Planmäßigkeit dieses Verbrechens – und lehnt dementsprechend auch die Bezeichnung Völkermord ab.

Berlin, den 15. Januar 2009 / Erschienen in der tageszeitung am 16. Januar 2009